Zivilgesellschaft im Wandel

Zur Bedeutung von Zukunftsorientierung
in der Zivilgesellschaft

Zivilgesellschaftliche Organisationen sind in besonderem Maße abhängig von Veränderungen in ihrer Umwelt. Sie agieren häufig auf Grundlage von freiwillig Engagierten sowie externer finanzieller Unterstützung und treten zudem oftmals in ihrer programmatischen Arbeit in den Austausch mit ihrem Umfeld. Viele Organisationen stehen auch bewusst im Lichte der Öffentlichkeit, um sich für sozialen und ökologischen Wandel oder die Belange von Mitgliedern einzusetzen.

Vor diesem Hintergrund ist die gezielte Auseinandersetzung mit strukturellen Umweltveränderungen für das Organisationshandeln wichtig – und diese Umweltveränderungen sind aktuell besonders vielfältig und nehmen in ihrer Geschwindigkeit zu.

Zu den vielfältigen Veränderungen zählen zum Beispiel der demografische Wandel, die Digitalisierung, Veränderungen im Mobilitätsverhalten, ein Wertewandel oder auch die Rolle des Staates in der Daseinsvorsorge.

Manche dieser Entwicklungen, samt ihren Auswirkungen für die Zivilgesellschaft, sind langfristig absehbar. So lässt sich bereits heute prognostizieren, dass der demografische Wandel nicht nur das Durchschnittsalter innerhalb der Bevölkerung deutlich erhöhen wird, sondern auch die Altersstruktur innerhalb verschiedener Räume verändert.4

Diese Entwicklung wird die Mobilisierungsprobleme traditioneller Vereine insbesondere in ländlichen Räumen verstärken. Andere Umweltveränderungen sind in dieser Form nicht prognostizierbar und treffen die Zivilgesellschaft weitgehend unvermittelt.

So hat kürzlich zum Beispiel die Corona-Pandemie den bis dato schleichenden Prozess der Digitalisierung innerhalb der Zivilgesellschaft und in anderen Lebensbereichen extrem beschleunigt und viele überrascht; mit großen Auswirkungen auf Engagementformen und -voraussetzungen sowie Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe.

Die Pandemie verdeutlicht, dass Umweltveränderungen auch unerwartet eintreten können und Organisationen vor die Herausforderung stellen, Strukturen, Prozesse und die Aktivitäten zur Zweckverwirklichung spontan anzupassen.

Der demografische Wandel und die Digitalisierung stehen hier nur beispielhaft für die zunehmende Notwendigkeit, sich als zivilgesellschaftliche Organisation dezidiert mit den vielfältigen Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld, samt ihrer Auswirkungen für die eigene Organisation, auseinanderzusetzen. Seit vielen Jahren ist die Zivilgesellschaft bereits mit einem Strukturwandel konfrontiert.

Dieser Strukturwandel beschreibt allgemein einen Wandel von Organisations- und Engagementformen.5 Zum Ausdruck kommt dieser zum Beispiel in einer Verschiebung von Engagementbereichen: Organisationen betätigen sich vermehrt in den Bereichen Umwelt, Bildung und internationale Solidarität, seltener jedoch in klassischen Feldern wie Blaulicht, Sport oder Brauchtum.6

Ebenso vollzieht sich ein Trend zur Informalisierung von Engagement: Menschen bauen seltener eine langfristige Bindung zu einer Organisation auf und ziehen zunehmend ein Engagement in informellen Initiativen dem in klassischen Vereinsstrukturen vor.7

Beide Entwicklungen verstärken gerade in ländlichen Regionen die Gefahr eines Vereinssterbens oder zumindest die bereits stark erkennbare Herausforderung in der Mobilisierung von Engagierten, verlangen aber auch Organisationen in urbanen Regionen zunehmend agiles, flexibles Handeln ab. Auch die Digitalisierung wird inzwischen dem Strukturwandel in der Zivilgesellschaft zugerechnet, da digitale Engagementformen mit traditionellen Organisationsengagements in den Wettbewerb treten und neue, netzwerkbasierte, digitale Organisationsformen entstehen.8

Dennoch beobachten wir, dass in vielen Organisationen notwendige finanzielle, personelle und zeitliche Ressourcen fehlen, um sich systematisch mit sich verändernden Umweltbedingungen einerseits, und den daraus resultierenden Auswirkungen auf das Handeln der Organisation andererseits, auseinanderzusetzen. Viele Organisationen richten den Fokus stets auf das Hier und Jetzt.

Sie sehen sich mit einem externen Erwartungsdruck konfrontiert (oder haben die Erwartung selbst), ihre verfügbaren Ressourcen möglichst schnell der Verwirklichung des Organisationszwecks zukommen zu lassen.9

Verstärkt wird dieser Fokus durch staatliche und nichtstaatliche Förderinstitutionen, die Mittel häufig ausschließlich zweckgebunden zur Durchführung konkreter Projekte zur Verfügung stellen. Zu kurz kommen in dieser Handlungslogik oft dringend notwendige Investitionen in die Organisation selbst, um diese fit für die Zukunft zu machen.

Das oben genannte Beispiel der Digitalisierung verdeutlicht diesen Zustand: Schon vor der Pandemie war erkennbar, dass ein großer Digitalisierungsbedarf innerhalb der Zivilgesellschaft besteht.

Dieser Bedarf wurde allerdings in weiten Teilen ignoriert, bis dies im Zuge der Pandemie nicht länger möglich war.

Viele Organisationen waren in der Pandemie folglich auch nicht angemessen aufgestellt, um Mitglieder und Freiwillige über digitale Engagementmöglichkeiten in der Organisation zu halten.10

Das Beispiel verdeutlicht die Tendenz in zumindest einigen Bereichen der Zivilgesellschaft, gesellschaftliche Veränderungen mit tiefgreifenden Auswirkungen auf das Handeln von Organisationen, und damit ihre Zukunftsfähigkeit, so lange wie möglich zu ignorieren.

Natürlich ließe sich einwenden: Wenn wir exogene Schocks, wie eine Pandemie, nicht vorhersagen können, wofür brauchen wir dann Prozesse wie diesen? Das gemeinsame strukturierte Erarbeiten möglicher Zukünfte ist nicht nur dann erfolgreich, wenn eines der Szenarien später eintritt, dieser Prozess schafft eine neue Fähigkeit, nämlich Signale frühzeitig erkennen zu können, deren Folgen später die Wirkungsmöglichkeiten grundlegend beeinflussen werden.

Im Foresight-Jargon wird dies als Future Literacy bezeichnet. Sie ermöglicht es den Akteurinnen und Akteuren frühzeitiger und flexibler reagieren zu können.

Angesichts der vielfältigen Herausforderungen, die die deutsche Gesellschaft in den letzten zehn Jahren heimgesucht haben, ist dies eine, wenn nicht die zentrale Kompetenz. Der systematische Aufbau von Zukunftskompetenz unter Engagierten mit Führungsverantwortung ist somit ein zentraler Baustein, um die Zukunftsfähigkeit der eigenen Organisation zu stärken.

Inzwischen gibt es vereinzelt Initiativen innerhalb der Zivilgesellschaft, die dem Blick in die Zukunft stärkere Aufmerksamkeit schenken. Hervorzuheben ist beispielweise eine Studie zu Bürgerstiftungen im Jahr 2030, in der unterschiedliche Szenarien zur künftigen Rolle von Bürgerstiftungen skizziert wurden.11

Zudem gibt es erste Ansätze, in unterschiedlichen Segmenten der Zivilgesellschaft einen Diskurs um Zukunftsorientierung aufzubauen, so zum Beispiel im Rahmen der Initiative „Scanning the Horizon“ unter Organisationen in der internationalen Zusammenarbeit.12 In Großbritannien stellt der Dachverband „National Council for Voluntary Organizations“ (NCVO) inzwischen mit future foresight tools Ressourcen zur Verfügung, um eine Zukunftsperspektive in Strategieprozessen zu berücksichtigen.

Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass eine solche Zukunftsorientierung in der Organisationspraxis bislang kaum verankert ist. Auch der bisherige Diskurs um den Strukturwandel beschreibt zwar beobachtbare Veränderungen innerhalb der Zivilgesellschaft, fokussiert allerdings bis dato weniger künftige Veränderungen in der gesellschaftlichen Umwelt. Mit unserer Studie möchten wir daher das Bewusstsein für gesellschaftliche Veränderung und ihre Relevanz für zivilgesellschaftliche Organisationen stärken.

Wir zeigen zudem auf, wie Organisationen auf Veränderungen bereits heute reagieren können und stellen mit der Foresight-Methode ein Werkzeug vor, dass Organisationen auch in Zukunft nutzen können, um eine Zukunftsorientierung in eigenen Strategieprozessen zu berücksichtigen.13 Es gilt, die Foresight-Methode in den kommenden Jahren zu einem Instrumentenkasten weiterzuentwickeln, um dieses Verfahren für das breite Spektrum an Organisationen innerhalb der Zivilgesellschaft zugänglich und nutzbar zu machen.

Prognose und Vorausschau:
Komplementäre Instrumente der Zukunftsbetrachtung

In unserer Studie kombinieren wir zwei verschiedene Instrumente, um einen Blick in die Zukunft der Zivilgesellschaft zu werfen: die Prognose (sogenanntes Forecasting) und die Vorausschau (sogenanntes Foresight). Beide Methoden weisen Stärken und Schwächen auf, sind in der Gesamtbetrachtung aber als sinnvolle Ergänzungen zueinander zu verstehen.

Forecastings sind Einschätzungen von Exptertinnen und Experten, die einen bestimmten Umweltfaktor (zum Beispiel den Arbeitsmarkt oder die Digitalisierung) in den Blick nehmen, eine wahrscheinliche Entwicklung aufzeigen und so eine Prognose zur Zukunft der Zivilgesellschaft formulieren.

Wie viele Wochenstunden werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgrund von Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt in zehn Jahren wahrscheinlich arbeiten und welche Konsequenz hat dies voraussichtlich für das Zeitbudget von freiwillig Engagierten? Welche wahrscheinliche Entwicklung ist mit Blick auf die Nutzung digitaler Medien zu erwarten, mit welchen Konsequenzen für die Verbreitung des digitalen Engagements?

Forecastings können dabei entweder einen quantitativen oder einen qualitativen Charakter haben. Quantitative Forecastings treffen annahmenbasierte Vorhersagen vor allem auf Basis statistischer Daten. Qualitative Forecastings treffen Zukunftsprognosen hingegen auf Basis des Wissens und des Erfahrungsschatzes von Expertinnen und Experten in einem bestimmten Themenfeld.

Allerdings sind präzise Vorhersagen über einen längeren Zeitraum schwierig. Forecastings nehmen zudem häufig nur einen bestimmten Umweltfaktor detailliert in den Blick; in der Realität ändern sich aber viele Umweltfaktoren gleichzeitig und stehen zudem in Wechselwirkungen zueinander.

Diese Komplexität erhöht die Ungewissheiten über die Zukunft und lässt sich in der Regel über Prognosen nur teilweise abbilden.
Vor diesem Hintergrund hat sich in den vergangenen Jahren Foresight (die strategische Vorausschau) als ergänzende Methode der Zukunftsbetrachtung etabliert.

Im Rahmen von Foresight-Prozessen werden mehrere Umweltveränderungen gleichzeitig in den Blick genommen, kombiniert und auf Basis verschiedener Entwicklungsannahmen in konsistente, denkbare Zukunftsszenarien ausformuliert.

Da Foresight-Prozesse zunächst einen höheren Grad an Komplexität zulassen, entstehen mehrere mögliche Zukunftsszenarien. Im Gegensatz zu Forecastings haben Foresight-Prozesse zudem häufig einen partizipativen Charakter, binden also Führungskräfte aus der Praxis aktiv mit in den Prozess ein.

Der Vorteil dieser Einbindung besteht sowohl darin, konkrete Handlungsoptionen aus Organisationsperspektive für einzelne Szenarien zu entwickeln, als auch, im Sinne eines Empowerments, Kompetenzen unter den Teilnehmenden in der eigenständigen Umsetzung eines Prozesses der strategischen Vorausschau zu entwickeln.

Die folgende Tabelle stellt in einer Gesamtschau die beiden methodischen Ansätze,
samt ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile, dar.

Forecasting und Foresight

Vor dem Hintergrund der verschiedenen Vor- und Nachteile betrachten wir die beiden Ansätze – Forecasting und Foresight – als sinnvolle Ergänzungen zueinander.

Unsere Studie ist als eine Kombination beider Ansätze zu lesen: In Kapitel 4 werden, als erster Impuls, unterschiedliche Prognosen zu fünf besonders relevanten Einflussfaktoren für die Zukunft der Zivilgesellschaft vorgestellt.

In Kapitel 5 folgen dann die Ergebnisse unseres Foresight-Prozesses. Im Rahmen der Studie wurde hierzu ein für die Zivilgesellschaft bisher einmaliger Foresight-Prozess entwickelt.

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