Prognosen

Die Zukunft der Zivilgesellschaft
aus Sicht von Expertinnen und Experten

Prognose 1:
Wandel der öffentlichen Daseinsvorsorge

Autoren:
Prof. Dr. Peter Dehne
Dipl.-Ing. Johann Kaether
Hochschule Neubrandenburg

Ganz allgemein umfasst die Daseinsvorsorge die öffentlichen Güter und Dienstleistungen, die dem Gemeinwohl und der Lebensentfaltung der Menschen dienen. Dazu zählen zum Beispiel: die Versorgung mit Wasser und Elektrizität, die Abwasser- und Abfallentsorgung oder auch soziale Dienste in Bereichen der Bildung, Gesundheit, Pflege und sozialen Sicherung. Der Begriff der Daseinsvorsorge ist jedoch unscharf, vieldeutig und durch die Gesetze nur begrenzt normiert.

Er ist offen für Veränderungen und das Verständnis von Daseinsvorsorge spiegelt Komplexität, Dynamik und Wandel der Gesellschaft wider.

So haben sich die Rollen in den letzten Jahren verändert. Der Staat ist nicht mehr nur Leistungserbringer. In vielen Bereichen handelt er vielmehr als Gewährleistungsstaat, indem er die von Dritten erbrachten Leistungen im Sinne des Gemeinwohls sichert und reguliert.

In anderen Bereichen motivieren, aktivieren und unterstützen Staat und Kommunen Eigeninitiativen der Bürgerinnen und Bürger und fördern deren Engagement wie zum Beispiel bei Bürgerbussen, Dorfläden oder kulturellen Aktivitäten. Leistungsstaat, Gewährleistungsstaat und motivierender Staat treten nebeneinander auf und ergänzen sich. In vielen Fällen wird die Daseinsvorsorge in Koproduktion von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft erbracht.

Dies wiederum gelingt nur, wenn man die einzelnen Sektoren nicht isoliert betrachtet, sondern Daseinsvorsorge als Ganzes im unmittelbaren Lebensumfeld und regional in den Blick nimmt.

Dies führt zu einem erweiterten Verständnis von Daseinsvorsorge, die weniger auf starre Leistungen als auf die eigentlichen Ziele und Zwecke für ein gutes Leben ausgerichtet ist, in dem Engagement, nachbarschaftliche Unterstützung und zivilgesellschaftliche Eigenorganisation eine neue Bedeutung gewinnen.

Dem steht eine Ökonomisierung und Konzentration in vielen Feldern der Daseinsvorsorge gegenüber. Treiber und Katalysatoren waren und sind Liberalisierung und Privatisierung, verstärkt durch die wettbewerbsrechtlichen Vorgaben der EU, sowie steigende Qualitätsanforderungen und Spezialisierungen, denen ortsnahe, bürgerschaftlich getragene Angebote kaum gerecht werden können.

Dies, in Verbindung mit Alterung der Bevölkerung und Rückgang der Bevölkerungszahl hat letztlich zu einer Ausdünnung der Angebote und zu räumlichen Versorgungslücken vor allem in ländlichen, dünn besiedelten Regionen geführt. Ähnliche Konzentrationsprozesse lassen sich auch in Städten beobachten. Stärker wirkt hier die soziale Segregation, die zu stigmatisierten Quartieren mit einer schlechten wohnortnahen Versorgung vor allem mit Kindertagesstätten, Schulen und Einrichtungen der medizinischen Versorgung führt.
Wenngleich angesichts der sozialen und räumlichen Vielschichtigkeit der Regionen eine Prognose zur zukünftigen Entwicklung der Daseinsvorsorge schwerfällt, lassen sich vier Trends skizzieren:

  1. In vielen Bereichen wird es zu einer weiteren fachlichen Spezialisierung und Professionalisierung in Verbindung mit einer räumlichen Konzentration innerhalb von Städten und in den Mittelzentren ländlicher Räume kommen. Parallel und ergänzend dazu entstehen dezentrale, kleine, teilweise auch „neue“ multifunktionelle Versorgungsmodelle in der Fläche.
  2. Gleichzeitig wird sich die Aufgabenwahrnehmung weiter ausdifferenzieren. Der Staat übernimmt wieder stärker eine gestaltende und unterstützende Rolle in der Daseinsvorsorge. Rekommunalisierungen nehmen zu, ebenso Modelle koproduktiver Daseinsvorsorge. Vor allem die Rolle der Kommunen ändert sich, hin zu Mobilisierung, Ermöglichung, Moderation sowie einer integrativen, sektorübergreifenden Planung der Daseinsvorsorge.
  3. Teile der Daseinsvorsorge werden sich in den digitalen Raum verlagern und somit helfen, das Erreichbarkeitsproblem zu überwinden und innovative Lösungen zu finden. Dies erfordert digitale Kompetenzen bei Anbietern und Kunden. Parallel dazu werden aber auch analoge Netzwerke und Kommunikation, nicht zuletzt für die Bereitstellung und Nutzung digitaler Angebote, wichtig bleiben.
  4. Durch die Transformation der Gesellschaft zeichnen sich neue Aufgaben der Daseinsvorsorge ab wie zum Beispiel grüne und digitale Infrastrukturen, Daten- und Kommunikationsmanagement, die Umsetzung der Energie- und Verkehrswende, Anpassungen an den Klimawandel oder die resiliente Gestaltung und Organisation von kritischen Infrastrukturen.

Die Daseinsvorsorge wird sich somit zwischen zwei, auf den ersten Blick gegensätzlichen Polen bewegen: Weiter zunehmende fachliche Spezialisierung und räumliche Zentralisierung auf der einen Seite sowie dezentrale, kleine lokale Lösungen und Eigenorganisation auf der anderen Seite. Zudem ist zu vermuten, dass durch ortsunabhängiges Arbeiten, das Recht auf Homeoffice und neue Angebote gemeinschaftlichen Arbeitens wie Co-Working und Co-Living der Nahbereich, das direkte Wohnumfeld für die Lebensgestaltung wieder wichtiger und das Nachfragepotenzial für wohnortnahe Angebote höher wird. Es bleibt abzuwarten, inwieweit dies zu flächendeckenden Lösungen führt, und ob sich damit, insbesondere in ländlichen Gemeinden, auch das Engagementpotenzial erhöht.

Engagement in der Daseinsvorsorge zwischen Subsidiarität und Substitut

Vor allem in den benachteiligten Stadtquartieren und peripheren Dörfern und Kleinstädten dünnen die Angebote der Daseinsvorsorge aus und verlieren an Qualität.Engagement kann dann zum Substitut und Lückenfüller werden, wie es auch kritisiert wird ,14/15 oder zum Ausdruck einer neuen Subsidiarität, die den Staat nicht aus der Verantwortung entlässt, Ressourcen und Unterstützung bereitzustellen.16

Engagement in benachteiligten städtischen Quartieren ist häufig auf nachbarschaftliches Miteinander, bessere Bildungschancen sowie die Integration von Migrantinnen und Migranten ausgerichtet. Kooperationspartner der Quartiers- und Gemeinwesenarbeit sind Schulen, Kindertages- und Jugendfreizeiteinrichtungen.17/18

Im ländlichen Raum gilt, je kleiner und peripherer die Dörfer und Gemeinden desto mehr wird zivilgesellschaftliches Engagement und Selbstorganisation von Daseinsvorsorge existenziell für die örtliche Lebensqualität. Zum einen kommt das zum Ausdruck in Bürgerinitiativen gegen oder für den Erhalt von Einrichtungen der Daseinsvorsorge (zum Beispiel Windenergie oder Schulen), aus denen nicht selten neue Initiativen entstehen.19 Zum anderen lassen sich verschiedene Formen der Freiwilligenarbeit und Verantwortungsübernahme in der Daseinsvorsorge unterscheiden:20/21

  1. Engagement beziehungsweise Ehrenamt als unverzichtbare und anerkannte Daseinsvorsorge (zum Beispiel Feuerwehr),
  2. Engagement als Teil des Wohlfahrtsmixes, in dem Engagement professionelle Erbringung von sozialer Daseinsvorsorge ergänzt beziehungsweise dazu beiträgt,
  3. Engagement als Selbstorganisation des gesellschaftlichen Lebens bis hin zum Substitut von privater Nahversorgung oder öffentlicher Daseinsvorsorge (Freibad, Bürgerbus, Dorfladen, Senioren-WGs),
  4. Engagement, das Geselligkeit, Freizeit, gemeinsame Interessen und Hobbys oder schlicht das Zusammenleben organisiert sowie
  5. die vielfältigen Formen eines themenübergreifenden Engagements für das direkte Lebensumfeld von Dorf, Quartier und Kleinstadt.

Diese sozial getragene Daseinsvorsorge kann von Schlüsselakteuren angetrieben und gesteuert werden, institutionell organisiert sein (Quartiersverein, Dorfgenossenschaft, Bürgerstiftung) oder sich mehr oder weniger unbewusst als stilles Engagement ergeben.

Es darf dabei nicht übersehen werden, dass eigenorganisierte, örtliche Daseinsvorsorge von Freiwilligkeit getragen und von begrenzten personellen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen limitiert wird. Die Möglichkeiten nehmen mit der Bedeutung von Verlässlichkeit, Fachwissen und der Notwendigkeit der Qualitätssicherung ab. Das Zusammenspiel zwischen Engagement und professionellen Anbietern sowie die Fragen der Bezahlung bleiben jedoch vielfach ungeklärt. Einerseits wird Engagement zunehmend professionalisiert und verberuflicht. Andererseits fällt es den professionellen Leistungserbringern sichtlich schwer, sich auf Partnerschaften mit vom Engagement getragenen Formen einzustellen. Eine zentrale Frage ist daher, wie die Übergabe- und Schnittstellen inhaltlich und rechtlich ausgestaltet werden können.
Die Praxis zeigt aber auch das große Potenzial engagementgetragener Daseinsvorsorge: Zivilgesellschaftliche Freiräume und Experimente führen zu neuen, innovativen Formen und Lösungen, die aus den Bedarfen und Möglichkeiten der Quartiere, Kleinstädte und Dörfer heraus entwickelt werden. Ergebnisse der Freiwilligensurveys zeigen zudem das Wechselspiel zwischen sozialem Zusammenhalt, Engagement und Identifikation mit dem Wohnort.22/23/ Eine gute Gemeinschaft fördert die Übernahme von Verantwortung. Erfolgreiche Selbstorganisation und das Bewusstsein, etwas aus eigener Kraft bewegt zu haben, stärkt wiederum das gute Lebensgefühl, birgt andererseits die Gefahr elitär zu sein und soziale Gruppen auszuschließen. Engagement in den unterschiedlichsten Formen kann darüber hinaus zu einer Integration von neuen Bürgerinnen und Bürgern in die Ortsgemeinschaft beitragen.

Die Engagementquoten zeigen jedoch ein Raum- und Substitutionsdilemma.24/25/ Die Bereitschaft sich zu engagieren steht in einem direkten Zusammenhang zur sozialen und finanziellen Situation. Dies bedeutet, dass gerade dort, wo Versorgungslücken bestehen und die gesellschaftliche Notwendigkeit von Engagement für und in der Daseinsvorsorge groß ist, die Engagementquoten eher gering sind und Eigenverantwortlichkeit und Eigenorganisation besonders gefördert werden muss. Neben einer grundsätzlichen Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation sind finanzielle Anreize, gesellschaftliche Wertschätzung des Engagements oder Unterstützungsstrukturen wie zum Beispiel die Deutsche Stiftung Engagement und Ehrenamt, das Online-Nachschlagewerk Mobilikon oder das Landesportal für Gemeinschaftsverkehre Baden-Württemberg Ansatzpunkte, um diese Dilemmata zu überwinden.

Die Zukunft des Engagements in der Daseinsvorsorge

Zusammenfassend ergeben sich drei Entwicklungslinien für das Zusammenspiel von Engagement und Daseinsvorsorge:

  1. Insbesondere in den sozioökonomisch und demografisch stabilen Städten und Regionen wird Engagement weiterhin einen hohen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben und zur Lebensqualität leisten. Engagementarbeit in Sport, Kultur, für soziale Belange oder die Entwicklung des Quartiers ergänzen die meist guten und wohnortnahen öffentlichen und privaten Angebote der Daseinsvorsorge.
  2. In benachteiligten Stadtquartieren und peripheren, dünn besiedelten ländlichen Regionen werden Engagement und Eigenorganisation immer mehr zu einem zentralen Element für die Gestaltung der Lebensqualität. Das Spektrum reicht von einfachen Formen der Geselligkeit und gemeinsamen Aktivitäten bis zur institutionellen Verankerung und Professionalisierung. Es wird nur dort gelingen, wo Menschen bereit sind, soziale Verantwortung zu übernehmen und ein gewisses Maß von sozialem Unternehmertum vorhanden ist. Schon jetzt zeichnet sich daher in diesen Regionen ein Nebeneinander von aktiven und passiven, lebendigen und eher tristen Gemeinschaften ab. Diese kleinräumigen Gegensätze werden sich in Zukunft weiter ausprägen, entscheidend für Zu- und Abwanderung sein und durch die Alterung der örtlichen Bevölkerung verschärft werden.
  3. Dort, wo Engagementpotenzial vorhanden ist und aktiviert wird, werden gemeinwohlökonomische und privatrechtliche Organisationsformen wie Vereine, (Bürger-)Genossenschaften, Stiftungen oder gemeinnützige GmbHs für die Gestaltung und Organisation des Zusammenlebens an Bedeutung gewinnen. Dies gilt in einer alternden Gesellschaft besonders für das breite Aufgabenspektrum eines guten, selbstbestimmten Lebens im Alter. In kleinen, ländlichen Gemeinden können diese zivilgesellschaftlichen und institutionalisierten Formen der örtlichen Daseinsvorsorge der kommunalen Selbstverwaltung Konkurrenz machen und mit ihr in Konflikt geraten.

Die entscheidenden limitierenden Faktoren sowohl für die öffentliche Daseinsvorsorge als auch für eine eigenorganisierte Daseinsvorsorge werden zukünftig jedoch die sozioökonomische und demografische Entwicklung und damit das Fachkräfte- und Engagementpotenzial sein.

Prognose 2:
Wandel des Arbeitsmarktes

Dieser Beitrag basiert auf Ergebnissen der Qualifikations- und Berufsprojektionen des Bundesinstituts für Bildung (BIBB) und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und ersten Ergebnissen einer Studie zu Determinanten ehrenamtlichen Engagements auf Basis von Daten des Panels Arbeitsmarkt und Soziale Sicherheit (PASS) des IAB. Weitere Informationen unter: www.QuBe-Projekt.de

AUTOREN:
Dr. Christian Hohendanner
Dr. Gerd Zika
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung

Zivilgesellschaftliches Engagement ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren, auf Seiten der zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie auch der Engagierten selbst. Ein zentraler Kontextfaktor, der zivilgesellschaftliches Engagement maßgeblich ermöglichen oder beeinträchtigen kann, sind die Bedingungen und Strukturen auf dem Arbeitsmarkt. Im Folgenden zeigen wir, dass in den nächsten 20 Jahren vor allem auch der Faktor Zeit von entscheidender Bedeutung sein wird, wenn es um zivilgesellschaftliches Engagement geht.26/27

Dabei geht es einmal um das schlichte Zeitbudget, das den Menschen zur Verfügung steht. Die wöchentliche Arbeitszeit bestimmt neben der Zeit für Familie, Hausarbeit und Freizeit, wieviel Zeit uns für ehrenamtliches Engagement zur Verfügung steht. Studien weisen darauf hin, dass eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit mit einer Ausweitung ehrenamtlichen Engagements einhergeht.28 Laut Freiwilligensurvey 2019 sind 50,8 Prozent der in Teilzeit oder geringfügig Beschäftigten ehrenamtlich aktiv, während sich Vollzeitbeschäftigte mit 43,5 Prozent in geringerem Ausmaß ehrenamtlich engagieren.29 Auch die empirische Analyse auf Basis der PASS-Daten zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, sich ehrenamtlich zu engagieren, tendenziell mit steigender vereinbarter Wochenarbeitszeit sinkt.

Allerdings veranschaulichen die Analysen auch, dass Arbeitszeitflexibilität von entscheidender Bedeutung ist, wenn es darum geht, in flexibler Weise Engagement, Arbeit und andere Lebensbereiche zu vereinbaren. Aus der Literatur gibt es Hinweise darauf, dass flexible Arbeitszeiten ehrenamtliches Engagement begünstigen.30 Dies wird auch in den Analysen der PASS-Daten deutlich: Im Vergleich zu Beschäftigten mit festen Arbeitszeiten weisen Personen mit flexiblen Arbeitszeiten und solche, die keine Vorgaben bezüglich ihrer Arbeitszeit haben, eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren. Problematisch scheinen hingegen wechselnde Arbeitszeiten zu sein – darunter fallen Schicht, Nacht- und Wochenenddienste.

Ein dritter zeitbezogener Faktor sind die Beschäftigungsformen, in denen die Menschen tätig sind. Beschäftigte mit zeitlich begrenzten Arbeitsverhältnissen wie befristet Beschäftigte und Leiharbeitende, verfügen häufig über eine geringere Beschäftigungssicherheit und Lebensplanbarkeit. Kommen Arbeits- und Wohnortwechsel und damit eine abnehmende soziale Verwurzelung hinzu,31 könnte sich dies negativ auf das soziale Engagement der Betroffenen auswirken. Die empirischen Analysen der PASS-Daten zeigen jedenfalls, dass Beschäftigte mit einem befristeten Arbeitsvertrag und Beschäftigte in einem Leiharbeitsverhältnis eine geringere Wahrscheinlichkeit sozialen Engagements aufweisen als die regulär unbefristet Beschäftigten.32

Die BIBB-IAB-Arbeitsmarktprojektion

Welche restringierende und ermöglichende Rolle der Faktor Zeit in den nächsten Jahren spielen wird, hängt somit maßgeblich von den zukünftigen Arbeitsmarktbedingungen ab, die entscheidend von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage bestimmt werden. Ist das Arbeitsangebot höher als die Arbeitsnachfrage, erhält ein Teil der Menschen keinen Arbeitsplatz mit der Folge steigender Arbeitslosigkeit. Können hingegen auf Seite der Arbeitsnachfragenden Arbeitsplätze nicht besetzt werden, herrscht Arbeits- oder Fachkräfteknappheit.

Wie sich Angebot und Nachfrage nach Qualifikationen und Berufen auf dem Arbeitsmarkt langfristig entwickeln können, zeigen die nachfolgend dargestellten Modellrechnungen der BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsprojektionen (www.QuBe-Projekt.de). Ziel der Projektionen ist es, in einer dynamischen Modellierung Bestände, Übergänge, Trends und Verhaltensweisen im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt und in der ökonomischen Entwicklung zu identifizieren und entweder fortzuschreiben (Trends) oder beizubehalten (Verhaltensweisen), um mögliche und in sich konsistente Entwicklungspfade sichtbar zu machen.

Die im Jahr 2020 entwickelte sechste Welle der QuBe-Basisprojektion berücksichtigt bereits die Folgen der Corona-Pandemie und die damit verbundenen Verwerfungen der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes. Die Pandemie wird dabei wie ein externer, vorübergehender Schock behandelt. Neben der demografischen Entwicklung (Alterung, Migration) beinhaltet die aktualisierte Projektion zudem das Konjunkturpaket und das Klimapaket der Bundesregierung, den Trend hin zur Elektromobilität sowie eine beschleunigte Digitalisierung.

Ergebnisse der BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsprojektion

Vor allem aufgrund von Zuwanderung wächst zwar die Bevölkerung in Deutschland noch bis 2029 auf 84,1 Millionen Personen an, fällt bis 2040 dann aber auf 83,7 Millionen Personen ab. Die erwerbsfähige Bevölkerung, also alle Personen, die zwischen 15 und 70 Jahre alt sind, sinkt jedoch bereits heute und wird bis 2040 um 5,2 Millionen Personen gegenüber 2019 geschrumpft sein (2019: 58,6 Millionen Personen; 2040: 53,4 Millionen Personen).

Da jedoch gleichzeitig die Erwerbsbeteiligung steigt, wird das Arbeits(kräfte-)angebot bis zum Jahre 2040 nur um rund 1,9 Millionen Personen geringer sein als heute. Dementsprechend wird auch das Arbeitsangebot in Stunden zurückgehen, allerdings etwas schwächer. Damit steigen die durchschnittlich pro Person angebotenen Stunden von 1.494,2 Stunden im Jahr 2019 auf 1.496,8 Stunden im Jahr 2040 (vgl. Abbildung).

Aufgrund des sinkenden Arbeitsangebots kann auch die Arbeits(kräfte-)nachfrage nicht weiter steigen. Im Gegenteil: Bis 2040 wird sie um rund 1,6 Millionen Personen niedriger liegen als 2019. Da die Arbeitsnachfrage in Stunden jedoch weniger stark sinken wird, steigen die durchschnittlich pro Person nachgefragten Stunden von 1.390,1 Stunden im Jahr 2019 auf 1.403,1 Stunden im Jahr 2040 (vgl. Abbildung).

Die durchschnittliche Lücke zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage in Stunden pro Jahr wird bis 2040 somit um 10,4 Stunden im Jahr (2019: 104,1 Stunden; 2040: 93,7 Stunden) zurückgehen (vgl. folgende Abbildung).

Abbildung: Arbeitsmarktbilanz in Stunden, 2005 bis 2040

Der demografische Wandel, und hier vor allem die Alterung der Gesellschaft, führt somit langfristig zu einem starken Rückgang des Arbeitskräfteangebots. Zwar werden Erwerbstätige künftig im Durchschnitt eher mehr Arbeitsstunden arbeiten als derzeit, allerdings kann dies den Rückgang bei weitem nicht kompensieren. Der dadurch entstehende Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel wird somit für die private Wirtschaft, aber eben auch für öffentliche und zivilgesellschaftliche Organisationen zunehmend zur Belastung.

Für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber wird es künftig immer schwieriger, geeignete Fachkräfte zu finden. Gut ausgebildete Arbeitskräfte werden sich ihre Arbeitsstellen zunehmend aussuchen können. Letztlich werden grundsätzlich vorhandene Wachstumspotentiale aufgrund von fehlenden Arbeitskräften nicht mehr in Gänze ausgeschöpft werden können.

Implikationen für die Zivilgesellschaft

Vor dem Hintergrund dieser Projektionen lassen sich gegenläufige Auswirkungen für das zivilgesellschaftliche Engagement in Deutschland ausmachen:

Steigende Wochenarbeitszeit – weniger Engagement: In den empirischen Analysen der Determinanten zivilgesellschaftlichen Engagements zeigt sich, dass mit steigender Wochenarbeitszeit tendenziell die Zeit für Engagement sinkt. Unter der Annahme, dass wir – wie die Projektion veranschaulicht – in Zukunft nicht weniger, sondern mehr arbeiten werden, würde sich die Wahrscheinlichkeit für zivilgesellschaftliches Engagement ceteris paribus verringern.

Höhere Arbeitszeitflexibilität – mehr Engagement: Personen mit flexiblen Arbeitszeiten oder keinen Vorgaben hinsichtlich der Arbeitszeit weisen eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, sich zu engagieren.33/34/ Arbeitszeiterhebungen deuten bereits darauf hin, dass die Arbeitszeitflexibilität in den letzten Jahren zugenommen hat.35 Derzeit wird das Verhältnis von Raum und Zeit in der Arbeitswelt — wie und wo wir arbeiten werden — neu austariert. Der pandemiebedingte Digitalisierungsschub könnte tendenziell Raum für mehr Arbeitszeitflexibilität der Beschäftigten schaffen. Eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer könnte die Vereinbarkeit verschiedener Lebensbereiche erleichtern und förderlich sein für zivilgesellschaftliches Engagement.

Mehr Beschäftigungssicherheit – mehr Engagement: Die steigende Arbeitskräfteknappheit dürfte die Bereitschaft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verringern, befristete Arbeitsverträge zu akzeptieren oder sich von Zeitarbeitsfirmen für nur kurze Dauer einstellen zu lassen. Eine steigende Beschäftigungs- und Planungssicherheit der Beschäftigten könnte sich neben flexiblen Arbeitszeiten positiv auf das Engagement auswirken.

Zunehmende Fachkräfteknappheit – weniger hauptamtliches Personal: Andererseits werden auch zivilgesellschaftliche Organisationen in Bezug auf ihr hauptamtliches Personal mit Arbeits- und Fachkräfteknappheit zu kämpfen haben. Insofern ist die zunehmende Fachkräfteknappheit für zivilgesellschaftliche Organisationen ein zweischneidiges Schwert.

Mehr Wettbewerb um Fachkräfte – mehr regionale Ungleichheit: Fachkräfteknappheit könnte sich regional unterschiedlich auswirken und Ungleichheiten zwischen Regionen verschärfen. In prosperierenden, finanzstarken Kommunen und Regionen mit attraktiveren Arbeits- und Lebensbedingungen dürfte es zivilgesellschaftlichen Organisationen leichter fallen, sowohl Arbeitskräfte als auch ehrenamtlich Engagierte zu rekrutieren und zu halten. Organisationen in weniger attraktiven Regionen könnten das Nachsehen haben. Eine Verstärkung ungleicher Arbeits- und Lebensbedingungen wäre die Folge.

Nachhaltige Integration von Menschen mit Migrationshintergrund: Auf der Suche nach einer Lösung des Fachkräftebedarfs konzentrieren sich die Hoffnungen auch auf einen verstärkten und nachhaltigen Zuzug von Arbeitskräften aus dem Ausland. Personen mit Migrationshintergrund, das zeigen die empirischen Ergebnisse ebenfalls, weisen eine geringere Wahrscheinlichkeit auf, sich sozial zu engagieren.36 Es werden erhöhte Anstrengungen notwendig sein, Personen mit Migrationshintergrund schneller und in größerem Ausmaß als bisher für zivilgesellschaftliches Engagement und hauptamtliche Beschäftigung zu gewinnen.

Rekrutierung von Engagierten und Fachkräften kein Selbstzweck: Die Rekrutierung von zivilgesellschaftlich Engagierten und Fachkräften ist dabei kein Selbstzweck. Letztlich geht es darum, zivilgesellschaftliche Herausforderungen im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen anzugehen und Menschen zu helfen, die in sozialen Problem- und Notlagen sind. Dazu sind hauptamtliches Personal und freiwilliges Engagement nötig.

Prognose 3:
Sozialraumentwicklung

Einwohnerzahlen deutschlandweit stabil, dank Zuwanderung

Autorin:
Susanne Dähner
Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung

Ein demografisches Zwischenhoch hat Deutschland seit einem Jahrzehnt geprägt. Entgegen damaliger Prognosen stiegen ab 2011 Jahr für Jahr die Einwohnerzahlen.37 Im Jahr 2019 lebten 83,2 Millionen Menschen zwischen Sylt und Alpenrand – mehr als jemals zuvor.

Im ersten Coronajahr 2020 endete dieses Wachstum, die Bevölkerungszahlen stagnierten. Denn aufgrund der Pandemie kamen auf einmal merklich weniger Menschen aus anderen Ländern.38

Zogen 2019 noch 330.000 mehr Menschen nach Deutschland als das Land verließen, betrug der Wanderungsgewinn 2020 nur noch 220.000 Personen.39 Dies verdeutlicht, dass das Bevölkerungswachstum vor allem auf die Zuwanderung zurückzuführen ist.

Gäbe es sie nicht, würde Deutschland bereits seit 1972 demografisch schrumpfen. Seit bald fünf Jahrzehnten kommen hierzulande in jedem Jahr weniger Kinder zur Welt als Menschen sterben. Selbst zwischenzeitlich gestiegene Kinderzahlen führten in keinem einzigen Jahr zu einer positiven natürlichen Bevölkerungsentwicklung.40

In den nächsten Jahren nehmen die Sterbeüberschüsse sogar noch überproportional zu. Denn jetzt kommen die letzten geburtenstarken Jahrgänge – die sogenannten Babyboomer – in das Alter, wo Sterben wahrscheinlicher wird. Laut einer Bevölkerungsprognose, die das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung gemeinsam mit dem CIMA Institut für Regionalwirtschaft 2019 erstellt hat, dürften im Jahr 2035 auf rund 700.000 Geburten um die 1,1 Millionen Sterbefälle kommen.41

Dies entspräche einer jährlichen Differenz von 400.000 Menschen, 2020 lag der Sterbeüberschuss bei 212.000.42 Momentan kann Zuwanderung die natürliche Bevölkerungslücke gerade noch schließen, zukünftig dürfte dies immer schwieriger werden. Auch weil die Alterung der Gesellschaft aufgrund der Entwicklung der letzten Jahrzehnte weiter voranschreitet.

Demografische Zukunft – die regionalen Verwerfungen weiten sich aus

Von der vorübergehenden Stabilisierung der Einwohnerzahlen können jedoch nicht alle Regionen Deutschlands gleichermaßen profitieren.

Vielmehr dürften sich in den nächsten Jahren die regionalen Unterschiede der Bevölkerungsentwicklung verstärken.

Regionen, die bereits in der Vergangenheit merklich Einwohnerinnen und Einwohner verloren haben und schon stark gealtert sind, dürften dies auch in Zukunft tun.

Vor allem Ballungsräume – Großstädte und ihr Umland – sind in den letzten Jahrzehnten dagegen stark gewachsen und dürften auch zukünftig weiter Menschen anziehen.

Laut der Prognose des Berlin-Instituts und CIMA dürften rund 60 Prozent aller 401 deutschen Kreise und kreisfreien Städte bis 2035 an Einwohnerinnen und Einwohnern verlieren. Besonders stark wird der Bevölkerungsrückgang in den abgelegenen, ländlichen Regionen im Osten der Republik sein. Dort liegen alle 23 Kreise, in denen 2035 mehr als ein Fünftel weniger Menschen leben dürfte als 2017.

Nicht fern von den am stärksten schrumpfenden Kreisen im Osten Sachsens, Süden Brandenburgs und Sachsen-Anhalts findet sich mit der sächsischen Stadt Leipzig gleichzeitig der bundesweit am stärksten wachsende Kreis. Die Universitätsstadt dürfte bis 2035 mit einem Einwohnerzuwachs von 16 Prozent rechnen.42 Dieses Wachstum verdankt Leipzig vor allem seiner Anziehungskraft für junge Menschen, wie auch die wenigen anderen ostdeutschen Leuchttürme, deren Einwohnerzahlen zu Lasten ländlicher Regionen zunehmen.

Abbildung: prognostizierte Bevölkerungsentwicklung 2017 bis 2035
Quelle:
Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung

Ein ähnliches Bild wie im Osten zeigt sich auch im Westen, nur weniger stark ausgeprägt: Das größte zukünftige Bevölkerungswachstum wird den Großstädten und ihrem Umland vorhergesagt. Dagegen dürften vor allem entlegene ländliche Räume, beispielsweise entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze im Norden Bayerns, in der Südwestpfalz oder im Norden und in der Mitte Hessens bis 2035 Einwohner verlieren.44

Ähnlich unseren Vorausberechnungen prognostiziert auch die BBSR-Raumordnungsprognose 2040 allein den sehr zentral gelegenen, stark wachsenden Kreisen und kreisfreien Städten bis 2040 weiteres Wachstum. Alle anderen Kreistypen – von zentral über peripher bis sehr peripher – dürften einen Bevölkerungsschwund erwarten.45

Auf dem Land gewinnt die Alterung an Fahrt, in Ost wie West

Zwar altert Deutschland insgesamt, aber die Bevölkerung der Regionen, die bereits viele Einwohnerinnen und Einwohner in den letzten Jahrzehnten verloren haben, ist heute im Vergleich schon deutlich älter. Während 2020 deutschlandweit das Durchschnittsalter 44,6 Jahre betrug, lag es in einigen besonders abgelegenen und vom Strukturwandel betroffenen Landkreisen und kreisfreien Städten schon bei fast 51 Jahren46 Diese Alterung setzt sich ungebremst fort.

Auch zukünftig dürften diese Regionen, die vor allem im Osten des Landes zu finden sind, zu den Gebieten mit überdurchschnittlich vielen älteren Menschen zählen. Mancherorts könnte der Anteil der Personen, die älter als 64 Jahre sind, bis 2035 auf bis zu 40 Prozent ansteigen,47 heute beträgt er in diesen Kreisen noch um die 30 Prozent.48

Abbildung: Prozentualer Anteil der Über 64-Jährigen an der Gesamtbevölkerung Nach Kreisen Und Kreisfreien Städten Fürdie Jahre 1995, 2017 und 2035
Anteil: Älter als 64 Jahre
Quelle:
Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung

Allerdings wird es den relativ stärksten Zuwachs an Älteren in heute noch jungen, wirtschaftlich erfolgreichen ländlichen Regionen im Westen und vor allem Süden der Republik geben. Dort leben überproportional viele Menschen aus der Gruppe der Babyboomer. Sie stehen aktuell noch im Berufsleben und tragen zum Wohlstand dieser Regionen bei. Bis 2035 werden sie das Ruhestandsalter erreicht haben.

In den niedersächsischen Landkreisen Vechta und Cloppenburg oder im bayerischen Freising oder Erding dürften 2035 zwischen 55 und 68 Prozent mehr Personen, die älter als 64 Jahre sind, leben als 2017. Von den 17 deutschen Kreisen, in denen die Zahl der Personen, die älter als 64 Jahre sind, bis 2035 um mehr als 50 Prozent zulegt, liegen zwölf in Bayern.49

Urbane Zentren bleiben jung

Im Vergleich jung bleibt dagegen die Bevölkerung der urbanen Zentren und ihres Umlands. Die Ballungsräume ziehen vor allem junge Menschen für Ausbildung und Berufseinstieg an. Später gründen viele von ihnen in den Städten ihre Familien und sorgen damit für einen Geburtenüberschuss. Außerdem sind es vor allem die Großstädte, die von der Zuwanderung aus dem Ausland profitieren. Viele Einwandernde sind im typischen Familienalter und tragen dazu bei, dass die Stadtbevölkerung nicht nur wächst, sondern auch jung bleibt.

In den letzten Jahren erlebte Deutschland einen kleinen Babyboom, weil es mehr Frauen zwischen 25 und 39 Jahren gab, die im Schnitt wieder etwas mehr Kinder bekamen und besonders viele Menschen im Familiengründungsalter nach Deutschland einwanderten. Dadurch werden in den kommenden Jahren wieder mehr Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren in Deutschland leben.

Bundesweit dürfte die Altersgruppe bis 2035 um 4 Prozent zulegen. Es sind aber vor allem die urbanen Räume, die zukünftig mehr junge Menschen beherbergen. In Leipzig dürfte bis 2035 die Zahl der Personen, die jünger als 20 Jahre sind, um 40 Prozent zulegen, in München oder Regensburg um mehr als 30 Prozent.50

Bedeuten alternde Regionen weniger oder mehr Engagement?

Der Wandel von Bevölkerungszahlen und Altersstruktur in den Sozialräumen verändert die Zivilgesellschaft vor Ort in den Städten und Gemeinden. Was könnte die beschriebene demografische Zukunft für das Engagement gerade in den ländlichen Regionen bedeuten?
Die Vermutung liegt nah, dass mit einer schrumpfenden und alternden Bewohnerschaft auch das ehrenamtliche Engagement immer mehr auf dem Rückzug ist.

Hinweise darauf sind das sich zunehmend in Daten abbildende Vereinssterben und der Rückgang der Engagiertenzahlen in den Vereinen in ländlichen Gebieten.51 Wo vor allem jüngere und Menschen im Erwerbsalter immer öfter fehlen, verschwinden gerade die, die sich am häufigsten ehrenamtlich engagieren. Laut Freiwilligensurvey (FWS) brachten sich 2019 fast 45 Prozent der 30- bis 49-Jährigen ein, aber gerade einmal 31 Prozent der über 64-Jährigen.52 Zudem sind mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung die Engagementquoten im Osten weiterhin geringer als im Westen der Republik.53

Doch einiges deutet darauf hin, dass mit einer alternden Bevölkerung nicht automatisch das zivilgesellschaftliche Engagement auf dem Rückzug ist. Im Gegenteil. Zwar engagiert sich aktuell etwa jede dritte Person im Alter ab 65 Jahren ehrenamtlich. Zehn Jahre zuvor war es jedoch nicht einmal jede fünfte Person. Im Vergleich aller Altersgruppen sind bei den Menschen im Ruhestandsalter die meisten Engagierten hinzugekommen.54 Mit dem Eintritt der starken Jahrgänge der Babyboomer in diese Altersgruppe wächst noch einmal das Engagementpotenzial. Eine forsa-Umfrage im Auftrag der Körber-Stiftung stellte 2018 fest, dass sich fast drei Viertel der 50- bis 75-Jährigen vorstellen können, ein gesellschaftliches Engagement im Rentenalter fortzusetzen oder gar auszubauen.55

Vom Potenzial der engagierten Älteren dürften wahrscheinlich die ländlichen, wirtschaftsstarken Räume im Süden der Republik am stärksten profitieren, in denen überproportional viele Babyboomer wohnen. Dagegen wächst in den Gebieten, wo heute schon besonders viele Ältere leben, zukünftig die Zahl der Hochbetagten ab 80 Jahre. Diese Altersgruppe dürfte immer mehr selbst auf Unterstützung und Hilfe angewiesen sein, statt sich aktiv einbringen zu können, gerade in den ländlichen Gebieten.

Auch das Vereinssterben muss nicht zwangsläufig ein Hinweis darauf sein, dass das Engagement verloren geht. Denn trotz sinkender Vereinszahlen auf dem Land ist weiterhin ein höherer Anteil von Landbewohnerinnen und Landbewohnern als Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohnern freiwillig engagiert.56 Bislang sieht es so aus, dass mit dem Ausscheiden älterer Ehrenamtler nicht das Engagement in den Dörfern und Kleinstädten verschwindet.

Die freiwillig Engagierten suchen sich vielmehr neue Organisationsformen, die eher zu ihren Lebensumständen und Vorstellungen von Ehrenamt passen.

Letztlich zeigen die Entwicklung der Zivilgesellschaft und des bürgerschaftlichen Engagements im Osten des Landes, dass auch vor dem Hintergrund des demografischen Schrumpfens und Alterns das Ehrenamt nicht verschwindet, sondern im Gegenteil an Bedeutung gewinnt. In den ostdeutschen Bundesländern, wo die Bewohnerschaft besonders rasant gealtert ist, war die Engagementquote seit 1999 nicht rückläufig, sondern hat stärker als in den westdeutschen Ländern zugenommen.57

Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass dort, wo die demografischen Herausforderungen besonders groß sind, auch die Bereitschaft steigt, sich für ein lebenswertes, attraktives Umfeld einzusetzen.

Hoffnungsschimmer neue Landlust

Die zitierten Bevölkerungsprognosen entstanden vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie. Es könnte sein, dass mehrere Lockdowns sowie die Erfahrungen mit digitalem, ortsunabhängigem Arbeiten auch langfristig dazu führen, dass sich die Wohnortpräferenzen verschieben und die Wanderungsbewegungen zwischen Stadt und Land verändern.58 Wer nicht mehr täglich ins städtische Büro muss, entscheidet sich vielleicht eher für einen ländlichen Lebensmittelpunkt, wo ein Häuschen mit Garten mehr und bezahlbareren Wohnraum als in der Großstadt verspricht.

Dies könnte ein sich wandelndes Umzugsverhalten verstärken, was sich schon vor Corona zeigte. Bei innerdeutschen Umzügen verlieren seit einigen Jahren Großstädte immer mehr Einwohnerinnen und Einwohner, während vor allem die Umlandregionen und zunehmend auch entferntere ländliche Gebiete Zuzüge verzeichnen. Es sind vor allem sogenannte Familienwanderer, 30- bis 49-Jährige mit ihren Kindern, die vermehrt die Großstadt mit dem Land tauschen.59

Diese Entwicklungen könnten auch zivilgesellschaftliche Strukturen in ländlichen Gebieten verändern.

Zum einen, weil sich mit dem Zuzug von Familien die Bevölkerungsstruktur und damit verbunden auch die Engagementstruktur wandelt. Dies könnte bedeuten, dass mit den neuen Bewohnerinnen und Bewohnern neue Themen, Angebote, Engagementformen und Allianzen von Aktiven entstehen, die die bisherige Ehrenamtslandschaft ergänzen. Nicht immer wird dies konfliktfrei sein.

Zum anderen könnte sich das Zeitbudget wandeln, was Menschen für ein Ehrenamt einbringen möchten. Wer wieder mehr vom Land aus im Homeoffice oder einem ländlichen Co-Working Space arbeiten kann, statt lange Wege in die Stadt ins Büro zu pendeln, hat vielleicht wieder mehr Zeit und Muße sich ehrenamtlich einzubringen.60

Prognose 4:
Digitaler Wandel

Gemeinschaft und Gesellschaft im digitalen Wandel

Autorin:
Claudia Haas
Mitautorin des 3. Engagementberichts

Die Digitalisierung führt zu weitreichenden Veränderungen in beinahe allen Bereichen unseres Lebens. Durch die Corona-Pandemie hat sich diese Entwicklung beschleunigt. In Zeiten von Lockdowns, Abstandsregelungen und der Einschränkung physischer Kontakte sind digitale Technologien das bevorzugte Kommunikationsmittel.

Wir verbringen mehr Zeit im Internet denn je, kommunizieren dort mit unseren sozialen Kontakten, diskutieren und streiten, finden uns zusammen, unterstützen uns, suchen nach Informationen.

Wie wirken sich technologische Entwicklungen auf die Zivilgesellschaft der Zukunft aus? In diesem Paper werden einige dieser durch den digitalen Wandel verbundenen Transformationsprozesse beleuchtet und deren Einfluss auf das zivilgesellschaftliche Engagement beschrieben. Anhand von drei Thesen wird schließlich aufgezeigt, welche Formen das Engagement in der Zukunft annehmen könnte.

Trends der digitalen Gesellschaft

Die Digitalisierung in Deutschland befindet sich in einem Aufwärtstrend: Sowohl die Nutzung digitaler Technologien als auch der Zugang zu solchen stiegen in den letzten Jahren stetig an, wie die bevölkerungsrepräsentative Befragung des D21-Digital-Index 2020/2021 aufzeigt. Während im Jahr 2018 etwa 84 Prozent der deutschen Bevölkerung das Internet ab und zu nutzten, waren es im darauffolgenden Jahr bereits 86 Prozent und 2020 sogar 88 Prozent.61

Auf einen ähnlichen Trend bezüglich der privaten Internetnutzung deuten auch die Ergebnisse der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS): Von 2006 bis 2018 stieg der Anteil derjenigen Personen, die das Internet nutzen um 36 Prozentpunkte auf 83 Prozent (siehe Abbildung).

Abbildung: Private Internetnutzung

Angaben in Prozent, N = 2827-3489
Antwort: „Ja, ich nutze privat das Internet.“

Im regionalen Vergleich treten bei der privaten Internetnutzung Unterschiede hervor, wie die ALLBUS-Daten zeigen. Personen in ländlicheren Gegenden nutzen seltener das Internet als solche in Großstädten: Während 83 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner von Kleinstädten mit weniger als 20.000 Einwohnerinnen und Einwohner mindestens einmal am Tag privat das Internet nutzen, sind es in Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnerinnen und Einwohnern 89 Prozent.62

Auch in den aktuelleren Daten des D21-Digital-Indexes (2021) zeichnet sich ein entsprechendes Stadt-Land-Gefälle ab.63

Aufschluss über die Nutzung verschiedener Medienarten gibt die ARD/ZDF-Massenkommunikation-Langzeitstudie. Seit der Jahrtausendwende verschiebt sich das tägliche Medienzeitbudget von Audio zu Video, wobei Bewegtbild im Jahr 2015 erstmals Audio überholte.

Indes spielt die Textnutzung im Internet mit 12 Prozent eine untergeordnete Rolle.64 Je jünger die Generation, desto mehr Zeit bringt sie für nonlineare Audio- und Videomedien auf. Zudem nutzen ab 2000 Geborene Medien generell intensiver als alle anderen Generationen, sie werden auch als Generation Video65 bezeichnet.

Online und vernetzt: Neue Modi des Engagements

Um die Zukunft der Zivilgesellschaft, des Engagements und die Auswirkungen des digitalen Wandels besser zu verstehen, ist ein Blick auf die junge Generation sinnvoll, denn sie wird einen Großteil der Engagierten in den nächsten Jahren ausmachen. Die Ergebnisse einer repräsentativen Jugendbefragung des Dritten Engagementberichts zeigen, dass immer noch 64 Prozent des Engagements in klassischen Organisationen oder Vereinen stattfindet (siehe Abbildung).

Es stellt sich jedoch heraus, dass die jungen Engagierten immer häufiger auch außerhalb traditioneller (Vereins-)Strukturen agieren: Etwa 30 Prozent sind in informellen Gruppen aktiv. In losen Netzwerken und Gruppen haben junge Menschen eher die Möglichkeit, sich zeitlich befristet oder punktuell zu engagieren, wogegen ein solch flexibles Engagement in Vereinen seltener angeboten wird.

Abbildung: Organisationeller Rahmen des Engagements

Angaben in Prozent, N = 640
Antwort: „Trifft zu“, Mehrfachantworten möglich, Basis: Engagierte.

Dass das Internet und digitale Medien selbstverständlich zu der Lebensrealität junger Menschen gehören, spiegelt sich auch im Engagement wider. 43 Prozent des Engagements der 14- bis 28-Jährigen findet inzwischen digital vermittelt statt, indem zum Beispiel digitale Kommunikationsdienste für Terminvereinbarungen benutzt werden.

In Bereichen wie Kultur und Freizeitgestaltung, aber auch in Politik und Umweltschutz, sind die digital Engagierten überproportional stark vertreten. In kirchlichen Engagements oder den Rettungsdiensten sind dagegen deutlich weniger digital Engagierte zu finden. Rein digitales Engagement kann unterschiedliche Formen annehmen – von der Unterzeichnung einer Onlinepetition, dem Teilen eines Spendenaufrufs, dem Verfassen eines Wikipedia-Artikels bis zum Engagement gegen Hassrede.

In einem Punkt sind sich diese Formen des digitalen Engagements jedoch ähnlich: das hohe Maß an Individualisierung.66 Themen und Aktivitäten, die die Digitalisierung selbst sowie das gesellschaftliche Miteinander im Internet betreffen, erweitern dabei das Spektrum des Engagements.

Die Ergebnisse der Jugendbefragung des Dritten Engagementberichts zeigen, dass es erhebliche bildungsbezogene Ungleichheiten im Engagement gibt. Mehr als 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler an Gymnasien engagieren sich gesellschaftlich, an Hauptschulen sind es lediglich 47 Prozent. Das Ausmaß dieser Kluft im Engagement zeigt sich zudem daran, dass junge Erwachsene mit geringem formalen Bildungshintergrund häufig daran zweifeln, dass ihre Fähigkeiten gebraucht werden und dass sie einen sinnvollen Beitrag für die Gesellschaft leisten können.

Dieses bildungsbezogene Gefälle nivelliert sich bei digitalem Engagement leicht, trotzdem ist eine stärkere Neigung höherer Bildungsgruppen zu digitalen Technologien zu erkennen. Das Potenzial digitaler Medien, durch ihre freie Verfügbarkeit und niedrigschwelligen Zugang zu einem Abbau sozialer Ungleichheiten beizutragen, wurde bisher nicht ausgeschöpft.

Unterschiede im (digitalen) Engagement ergeben sich ebenfalls anhand der Wohnortgröße: Junge Menschen in kleineren Gemeinden nutzen die digitalen Medien insbesondere, um sich thematisch, räumlich und zeitlich flexibel zu engagieren und die eingeschränkten lokalen Möglichkeiten zu kompensieren.

So geben 36 Prozent der Jugendlichen aus Wohnorten mit weniger als 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner an, für ihr Engagement das Internet aufgrund vor Ort fehlender, für sie passender Engagementoptionen zu nutzen.67 Demgegenüber gilt dies nur für 21 Prozent der Jugendlichen aus mittleren (100.000 bis 500.000 Einwohnerinnen und Einwohner) und für 26 Prozent aus großen (500.000 und mehr Einwohnerinnen und Einwohner) Städten.

Zukunft Zivilgesellschaft? Drei Thesen zu den Entwicklungen des Engagements aufgrund der Digitalisierung

Insgesamt eröffnen digitale Technologien neue Chancen und Alternativen für die Zivilgesellschaft und das Engagement. Keineswegs ist zu erwarten, dass alles digital wird – doch in sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ist zunehmend mit Digitalität zu rechnen.68/69/ Was bedeutet das für die Zukunft der Zivilgesellschaft? Im Folgenden werden drei Thesen aufgestellt, die zentrale Entwicklungen des Engagements betreffen.

These 1: Engagement außerhalb institutioneller Organisationen gewinnt an Bedeutung.

Bestehende Vereine, Verbände, Parteien etc. werden sich verstärkt auf die Allgegenwärtigkeit der digitalen Welt einstellen und entsprechende Angebote für Interessierte schaffen. Auch wenn institutionelle Organisationen wie Vereine für Engagement und Ehrenamt weiterhin bedeutsam sind – insbesondere zur Stabilisierung von Engagementstrukturen – werden voraussichtlich nicht alle die Transformation überstehen. Lose Netzwerke mit weniger formalen Strukturen treten in offene Konkurrenz zu traditionellen Mitgliedschaftsorganisationen.70 Sie bieten ein breiteres Spektrum an flexiblem, individuellem und befristetem Engagement.

Gleichzeitig kann angenommen werden, dass einige fluide Organisationsformen mit der Zeit formalere, hierarchische Strukturen annehmen. Organisationen mit langer Tradition wie die Freiwillige Feuerwehr, die zu einem Großteil auf freiwilligem, zeitintensivem Engagement basieren, werden neue Wege erschließen müssen, um ihr Bestehen fortzuführen, denn die Gewinnung Ehrenamtlicher wird immer schwieriger.71/72/ Aufgrund dieser Herausforderungen scheint ein „Organisationssterben […] unvermeidlich zu sein“.73

Auch eine reaktive Einstellung zur Digitalisierung kann für Organisationen existenzbedrohend sein, wenn Prozesse, die durch digitale Technologien vereinfacht werden könnten, analog betrieben so ineffizient und zeitaufwendig werden, dass die eigentliche Tätigkeit der Organisation in den Rückstand gerät.

Die Organisationenbefragung des Dritten Engagementberichts kommt zu dem Ergebnis, dass besonders regional agierenden Vereinen mit distanzierter Haltung zur Digitalisierung die Gefahr droht, von ihr abgehängt zu werden.74 Doch es wird auch einige Organisationen geben, die sich diese neuen Formen der Gemeinschaft zunutze machen, indem sie um sich herum Netzwerke aktivieren.

These 2: Die Zivilgesellschaft wird die Digitalisierung mitgestalten.

Während für das digitale zivilgesellschaftliche Engagement oft bestehende technologische Infrastrukturen genutzt werden, wirken Engagierte auch an der Gestaltung der Technik sowie deren kreativer Nutzung in ehrenamtlicher Form mit.75

Zivilgesellschaftlich Aktive verbinden ihr technisches Know-how dabei mit gemeinwohlorientiertem Denken und Handeln, entwickeln selbst neue Technologien und motivieren in innovativen Projekten junge Menschen zur Mitgestaltung und Vermittlung der digitalen Kultur. Digitale Vorreiter-Organisationen beziehungsweise -Initiativen vertreten den Anspruch, die gesellschaftlichen Bedürfnisse und Ansprüche an die Gestaltung der digitalen Infrastruktur nicht allein Politik und Wirtschaft zu überlassen.

Sie sind wesentliche Akteurinnen und Akteure der gemeinwohlorientierten Gestaltung der Digitalisierung. Aufgrund ihres reichhaltigen Fundus an Wissen, Kompetenzen und Netzwerken sind sie für diese aktive Rolle optimal geeignet. Neben der Entwicklung gemeinwohlorientierter Technologien im Allgemeinen zeichnet sich eine wachsende Relevanz bezüglich Anwendungen ab, die auf Künstlicher Intelligenz (KI) basieren. Civic-Tech-Communitys und Forschungsprojekte setzen sich vermehrt mit KI-Infrastrukturen, deren Entwicklung und Einsatz im Engagementbereich auseinander.

So werden in Zukunft verschiedenste KI-Prototypen im Sinne des Gemeinwohls entwickelt zum Beispiel solche, die mit Hilfe von Natural Language Processing deutsche Texte in Leichte Sprache übersetzen.76 Um der Komplexität ethischer Implikationen und der Dynamik der Technikentwicklung gerecht zu werden, ist jedoch sowohl ein vernetztes Ökosystem des Engagementsektors als auch eine ausreichende Finanzierung notwendig.77

These 3: Unterschiede im Engagement werden teilweise abgebaut.

Zahlreiche wissenschaftliche Forschungsergebnisse zu Ungleichheiten und Unterschieden im Engagement bieten Grundlage zur Umsetzung entsprechender politischer Maßnahmen, um bestehende Spaltungen zu verringern.78/79/ Gleichberechtigte Teilhabechancen werden nicht von heute auf morgen geschaffen, sondern in einem langfristigen Prozess unter Beteiligung von Politik, Zivilgesellschaft sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgehandelt werden. Mit der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) der Bundesregierung ist ein Rahmen für die Umsetzung der Agenda 2030 gesetzt, den es schnellstmöglich umzusetzen gilt.

Profitieren werden davon mitunter junge Menschen, die unabhängig von jeweiligen Schulform durch den verstärkten Fokus auf kritisch-reflexive mediale Kompetenzen im Unterricht lernen, besser mit der Komplexität digitaler Medien umzugehen. Insbesondere für jene Jugendlichen mit niedrigen Bildungsabschlüssen ist diese Entwicklung ausschlaggebend, denn eine gesteigerte Medienkompetenz geht schließlich mit einer gesteigerten Selbstwirksamkeitsüberzeugung einher, sodass sie sich zum Beispiel eher eine Beteiligung an gesellschaftlich-politischen Diskussionen oder Initiativen im Netz zutrauen.

Der Zugang zu digitalen Engagementangeboten kann in strukturschwachen Regionen eine Alternative zum Engagement vor Ort darstellen. Mit dem weiteren Ausbau flächendeckenden Internets für den gesamten ländlichen Raum werden künftig noch mehr Menschen digitale Angebote in diesen Regionen selbst umsetzen beziehungsweise in Anspruch nehmen. Gleichzeitig wird durch strukturelle Förderung Organisationen geholfen, die Vorzüge digitaler Technologien bestmöglich einzusetzen, um beispielsweise Reichweite und Sichtbarkeit in den entsprechenden Gebieten zu steigern.

Prognose 5: Wandel von
Gesellschaftlichen Konfliktlinien

Autorinnen
und Autoren:
Prof. Dr. Swen Hutter
Freie Universität Berlin und Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Prof. Dr. Hanna Schwander
Humboldt Universität zu Berlin

Das Aufkommen neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien und das Erstarken radikaler, oft populistischer Parteien sind Zeichen eines grundlegenden Strukturwandels der Politik in Deutschland und Europa insgesamt. In den Sozialwissenschaften werden unterschiedliche Bezeichnungen für die neue Konfliktlinie verwendet – unter anderem „Öffnung versus Abgrenzung“ oder „Kosmopolitismus versus Kommunitarismus“.80 Einig ist man sich allerdings, dass die neuen Konflikte quer zur herkömmlichen ökonomischen Links-Rechts-Verortung stehen und besonders sozio-kulturelle Fragen von Gemeinschaft und Zugehörigkeit betreffen.

In einer zunehmend globalisierten Welt werden Fragen von nationaler Identität, Souveränität und Solidarität neu verhandelt. Daher ist es kein Zufall, dass Kontroversen um die Aufnahme und Integration von Migrantinnen und Migranten, die Stärkung europäischer Institutionen sowie die Regulierung des internationalen ökonomischen Wettbewerbs zugenommen haben. Deutschland galt zumindest im Hinblick auf die geringere Durchschlagskraft der neuen kulturellen Konfliktlinie auf den Parteienwettbewerb lange Zeit als Ausnahme in Westeuropa. Diese Annahme trifft spätestens seit dem Aufstieg und der Transformation der Alternative für Deutschland (AfD) nicht mehr zu.

Zentral für die Frage, wie sich die Entwicklung neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien auf die Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement auswirken, sind unseres Erachtens drei Punkte: (1) Die Transformation ist nicht abgeschlossen und es zeichnet sich eine immer stärkere Verschränkung kultureller und ökonomischer Konflikte in einer neuen Super-Dimension ab. (2) Die Stärke dieser Transformation lässt sich nicht alleine an Veränderungen im Parteiensystem und Wahlverhalten ablesen, da sie Ausdruck grundlegender sozialer Veränderungen und der Herausbildung neuer gesellschaftlicher Lager ist. (3) Es haben sich nicht nur die inhaltlichen Koordinaten von Politik, sondern auch die Formen ihrer Artikulation und Mobilisierung verändert. In diesem Zusammenhang steht auch die zentrale Auswirkung auf die Zivilgesellschaft, sprich deren stärkere Politisierung.

Zunächst skizzieren wir im Folgenden den Wandel beider zentralen Konfliktlinien, die den politischen Raum Deutschlands traditionell strukturiert hatten. Anschließend beschreiben wir die verschiedenen Muster der Politisierung der Zivilgesellschaft.

Die Entwicklung gesellschaftlicher Konfliktlinien

Eine erste Transformation erfuhr die sozio-kulturelle Konfliktlinie, als Fragen der individuellen Selbstbestimmung, demokratischen Teilhabe und Umweltschutz im Zuge der neuen sozialen Bewegungen der 1970er und frühen 1980er Jahre in den Vordergrund rückten. Die Entstehung grüner Parteien im linken Parteienspektrum ist ein direktes Ergebnis der Politisierung dieser Konflikte. Wie eingangs erwähnt, erfuhr die kulturelle Dimension seit den 1990er Jahren eine zweite Transformation, als mit zunehmender Globalisierung und dem damit verbundenen Abbau von ökonomischen, politischen und kulturellen Grenzen Fragen von Abgrenzung und Öffnung neu verhandelt wurden. Der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und die Politisierung von Einwanderungs- und Europathemen sind eng mit diesen Konflikten verbunden.

Aber auch die sozio-ökonomische Konfliktlinie veränderte sich. Anstelle von Konflikten um makro-ökonomische Regulierungen sind die Ziele sozialstaatlicher Maßnahmen und die Zugangsberechtigung zu sozialstaatlichen Leistungen in den Blickwinkel politischer Debatten gerückt.81 Traditionell war insbesondere der deutsche Sozialstaat auf einen materiellen ex-post Schutz der Bürgerinnen und Bürger im Falle eines Verlustes des Arbeitsplatzes, im Alter oder bei Berufsunfähigkeit ausgerichtet. Alternativ kann der Wohlfahrtsstaat Bürgerinnen und Bürger unterstützen, sich auf ein dynamisches wirtschaftliches Umfeld vorzubereiten, indem er in ihr Humankapital und ihre Fähigkeiten investiert.

Kinderbetreuung und frühkindliche Bildung oder aktive Arbeitsmarktpolitik sind Beispiele investiver Sozialpolitik. Aufgrund begrenzter Haushaltsmittel ist eine gleichzeitige Ausweitung beider sozialstaatlicher Funktionen oft nicht möglich, weshalb die Priorisierung von Aufgaben die Gesellschaft vermehrt spaltet. Verstärkte Einwanderungsbewegungen und zunehmende wirtschaftliche Unsicherheit lösen zudem Debatten über die Grenzen der Wohlfahrtssolidarität aus.82 Entsprechend hitzig diskutiert werden der Zugang zu den sozialstaatlichen Leistungen und die Schützwürdigkeit unterschiedlicher Empfängergruppen.

Diese Debatte hat daher nicht nur verteilungspolitische Implikationen, sondern weist auch einen kulturell konnotierten Bezug zur Einstellung bezüglich einer universalistischen versus partikularistischen Organisation der Gesellschaft auf. Hier zeigt sich eine mögliche Verschränkung von kulturellen Wertprädispositionen und sozio-ökonomischer Verteilungspolitik.

Wir erwarten, dass eine solch zunehmende Verschränkung kultureller und ökonomischer Konfliktlinien zu einer zunehmenden Polarisierung der Bevölkerung führt. Gerade Verteilungsfragen haben sich bisher durch eine ausgeprägte Kompromissfähigkeit ausgezeichnet, da nicht nur ein inhaltlicher Mittelweg gefunden werden kann, sondern Verliererinnen und Verlierer konkreter Reformen materiell kompensiert werden konnten. Die kulturelle Aufladung sozialpolitischer Debatten erschwert diese. Dazu kommt eine stärkere räumliche Segmentierung der politischen Lager, welche Sozialgeografinnen und Sozialgeografen sowie Politikwissenschaftlerinnen und-wissenschaftler schon seit längerem beobachten.83 (Groß-) Städte sind die Heimat der Kosmopoliten.

Hier wird die Globalisierung tendenziell begrüßt, die wissensbasierte Dienstleistungswirtschaft floriert, die Europäische Union wird als Quelle des Wohlstands und der Stabilität angesehen, und Einwanderer aus diversen Kulturen sind willkommen. Außerhalb der großen Städte – und vor allem auf dem Land – findet sich ein stärkerer Nationalstolz: Globalisierung wird vorwiegend als Bedrohung empfunden, die Agrar- und Industriewirtschaft hat zu kämpfen, die Europäische Union wird als Zerstörerin der nationalen Identität, Souveränität und Kultur angesehen und Einwanderer, besonders aus fremden Kulturen, sind weniger erwünscht.

Die Abbildung verdeutlicht diese starke räumliche Strukturierung der Konfliktlinien anhand von Daten des European Social Surveys (2016). Die linke Seite des Schaubilds zeigt die Positionierung von Menschen nach ihrer Berufsgruppe, während die rechte Seite die Positionierung nach dem Wohnort zeigt. Wir sehen, dass ökonomisch linke Einstellungen sowohl mit progressiven Wertevorstellungen (Sozio-kulturelle Professionelle) wie auch mit konservativen Wertevorstellungen (Produktions- und Dienstleistungsarbeiterinnen und -arbeiter) einher gehen können.

Räumlich geordnet fallen die Positionen allerdings stärker zusammen, mit progressiven, staatsbefürwor­tenden Städterinnen und Städtern auf der einen und konservativen, marktbefürwortenden Landbewohnerninnen und -bewohnern auf der anderen Seite. Dies ist insofern problematisch als dass eine stärkere räumliche Segmentierung Interaktionen über politische Lager hinweg weniger wahrscheinlich macht und entsprechend zu einer stärkeren Schließung derselben führen kann. Wenn sich nun auch Wertvorstellungen stärker mit Positionen der sozio-ökonomischen Konfliktlinien verbinden zu einer kulturell-ökonomischen Superdimension (und neuere Ergebnisse aus der Einstellungsforschung deuten darauf hin), fürchten wir eine zunehmend polarisierte Gesellschaft.

Abbildung: im politischen Raum Deutschlands – nach Berufsgruppen und Wohnort

Anmerkungen: Berufsgruppen nach Oesch (2006), Abkürzungen: SE=Selbstständige Professionelle und Unternehmerinnen und Unternehmer mit Angestellten; SBO=Kleinunternehmerinnen und -unternehmer; TP=Technische Professionelle; PW=Produktionsarbeiterinnen und -arbeiter; MAN=Managerinnen und Manager; CL=Angestellte; SCP=Soziokulturelle
Professionelle; SW=Dienstleistungsarbei­terinnen und -arbeiter; Einordnung des Wohnorts nach Selbsteinschätzung der Befragten.
Daten: ESS 2016, eigene Darstellung

Folgen für die Zivilgesellschaft

Welche Folgen hat diese Entwicklung gesellschaftlicher Konfliktlinien nun für zivilgesellschaftliche Organisationen und bürgerschaftliches Engagement? In aller Kürze: Die Durchschlagskraft neuer sozio-kultureller Konfliktlinien und deren zunehmende Verschränkung mit Verteilungsfragen führen zur Politisierung der Zivilgesellschaft.

Da diese Restrukturierung von gesellschaftlichen Konfliktlinien keineswegs abgeschlossen ist, erwarten wir für die kommenden zehn bis fünfzehn Jahre eine Verstärkung des Trends hin zu einer politischeren Zivilgesellschaft. Politisierung verstehen wir dabei nicht nur im Sinne der Beteiligung zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse am politischen Willensbildungsprozess, sondern dass die neuen Konflikte in die Zivilgesellschaft selbst hineinwirken und diese immer stärker zum Ort der Austragung gesellschaftlicher Konflikte wird. Dabei lassen sich in Anlehnung an Edgar Grande84 mindestens vier Muster beziehungsweise Kanäle der Politisierung der Zivilgesellschaft beobachten:

  1. Das erste Muster der Politisierung bezieht sich auf die quantitative Zunahme freiwilliger Zusammenschlüsse von Bürgerinnen und Bürgern mit expliziten gesellschaftspolitischen Anliegen im Gegensatz zu Freizeitvereinen (wie zum Beispiel Sport und Kultur). Beispielhaft hierfür sind neue Vereinigungen im Bereich Flucht und Migration (unter anderem Willkommensinitiativen), aber auch im Bereich Umwelt und Klimaschutz (unter anderem Fridays for Future). So verweist auch der jüngste Freiwilligensurvey von 2019 auf die enge Verknüpfung von freiwilligem Engagement und politischer Partizipation.85 Wichtig ist hierbei zu betonen, dass viele dieser neuen Vereinigungen nicht klassischen Vereinsstrukturen entsprechen, sondern Trends hin zu einer stärker informellen, digitalen, aber auch individualisierten Organisations- und Partizipationsform aufweisen.
  2. Das zweite Muster der Politisierung bezieht sich auf das Erstarken von politischem Protest und sozialen Bewegungen von rechts. Lange Zeit war in Deutschland und Westeuropa die Straße vor allem von linken und progressiven politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren besetzt. Bewegungen wie Pegida, aber auch die starke Präsenz rechtsradikaler Akteure im Zusammenhang mit den jüngsten Anti-Corona-Protesten deuten auf eine Verschiebung hin. Dieser Prozess ist allerdings nicht begrenzt auf die Protestarena, da rechte Akteure bewusst auch Konflikte in etablierte zivilgesellschaftliche Kontexte hineintragen (unter anderem in Sportvereine, Gewerkschaften und auch kirchliche Vereinigungen).86
  3. Die zivilgesellschaftliche Mobilisierung von rechts bleibt aber nicht ohne Gegenreaktion in der Zivilgesellschaft. Die Spirale von Mobilisierung und Gegenmobilisierung stellt daher ein drittes Muster der Politisierung dar. Wiederum lässt sich dies auf der Straße und im digitalen Raum als weiterem Ort der politischen Mobilisierung der Zivilgesellschaft feststellen – das breite Bündnis aus Politik, Kultur und Zivilgesellschaft hinter #unteilbar ist nur ein illustratives Beispiel für diese Dynamik. Dabei kommt es zum einen zur Vernetzung zivilgesellschaftlicher Akteure aus unterschiedlichen Feldern (wie Gewerkschaften und Anti-Rassismus-Initiativen); zum anderen nehmen auch bislang kaum politisch aktive Vereinigungen Stellung. Letztere umfasst nicht nur Protesthandlungen, sondern eine Palette von Gegenstrategien – von Präventionsmaßnahmen, öffentlichen Stellungnahmen bis hin zum Ausschluss von Mitgliedern.
  4. Des Weiteren gehen wir davon aus, dass die Entwicklung gesellschaftlicher Konfliktlinien Folgen für die soziale und politische Zusammensetzung innerhalb zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse hat, und wir eine zunehmende ideologische Sortierung der Zivilgesellschaft entlang der neuen Superdimension erleben werden. Dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Lager sich in verschiedenen Protestnetzwerken organisieren, ist dabei wenig überraschend. Die Verschärfung gesellschaftlicher Konfliktlinien und besonders die Entwicklung einer neuen kulturell-ökonomischen Superdimension könnte – so zeigen historische Beispiele, aber auch aktuelle Entwicklungen in den USA, Ungarn oder Polen – dazu führen, dass es auch bei der Zusammensetzung von Vereinigungen im Freizeit- und sozialen Dienstleistungsbereich zu einer stärkeren Schließung kommt, das heißt Personen vermehrt nur noch mit jenen zusammenkommen (wollen), die ihre politischen Anschauungen und Wertvorstellungen teilen. Die erwähnte zunehmende räumliche Segmentierung verstärkt diesen Prozess.

Insgesamt erwarten wir, dass die Entwicklung gesellschaftlicher Konfliktlinien zu einer Politisierung der Zivilgesellschaft entlang der vier genannten Muster beiträgt. Dies kann letztlich zu einer neuen Versäulung innerhalb der Zivilgesellschaft beitragen. Eine so strukturierte Zivilgesellschaft verliert an politischer Integrationskraft und bietet weniger Raum für Interaktionen über politische Lager hinweg.

Aus früheren Phasen der Herausbildung neuer Konfliktlinien wissen wir aber auch, dass es zur Befriedung solcher Konflikte sowohl entsprechender politscher Institutionen bedarf, als auch die Zivilgesellschaft als Ort der Konfliktaustragung ihren Beitrag leisten kann. Eine politisierte und gleichzeitig stark organisierte und engagierte Zivilgesellschaft bedeutet letztlich auch eine mündige Zivilgesellschaft, die vom Niedergang der Parteiendemokratie weniger betroffen ist und sich politisch zielgerichtet einmischen kann und so aktiv zum Aushandlungsprozess beiträgt.

Zwischenfazit

Die fünf in diesem Kapitel vorgestellten Kurzexpertisen formulieren Prognosen mit deutlichen Auswirkungen auf zivilgesellschaftliche Organisationen und das Engagementverhalten.

Mit Blick auf den Wandel der öffentlichen Daseinsvorsorge prognostizieren die Autoren, dass gerade in benachteiligten Stadtquartieren und dünn besiedelten ländlichen Regionen die Lebensqualität vor Ort künftig noch stärker von zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation abhängen wird. Somit gewinnt die Motivation und das Engagement der Menschen vor Ort an Bedeutung, ihr Umfeld selbst aktiv zu gestalten.

Wenngleich zivilgesellschaftlich getragener Daseinsvorsorge ein ausgeprägtes Innovationspotenzial innewohnt, sollten jedoch ebenso die Herausforderungen und Risiken im Blick behalten werden: Da die Engagementbereitschaft innerhalb der Bevölkerung mit der sozialen und finanziellen Situation variiert, könnte eine zunehmende Bedeutung von Engagement in der Daseinsvorsorge räumliche Ungleichheiten verschärfen. Auch die Gestaltung effektiver Kooperationsbeziehungen zwischen professionalisierten Anbietern und auf Freiwilligkeit fußenden Akteurinnen und Akteuren wird eine künftig häufiger zu lösende Herausforderung sein.

Auch die Projektion zum Wandel des Arbeitsmarktes verdeutlicht vielfältige Konsequenzen für das künftige Engagement innerhalb der Bevölkerung. Ausgehend vom erwarteten Anstieg der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit ist insbesondere unter aktuell in Teilzeit beschäftigten Personen mit geringeren Zeitbudgets für Engagement zu rechnen.

Unklar bleibt in diesem Zusammenhang, inwiefern die Flexibilisierung in der Arbeitszeitgestaltung und die erwartete Zunahme fester Beschäftigungsverhältnisse – als engagementbegünstigende Faktoren – die negative Wirkung geringerer Zeitbudgets kompensieren können.

Zudem wird der erwartete Fachkräftemangel nicht nur die Wirtschaft, sondern ebenso die Zivilgesellschaft treffen: Dies gilt einerseits für professionalisierte Organisationen (zum Beispiel in der Sozialwirtschaft) mit Blick auf steigende Herausforderungen in der Akquise von Mitarbeitenden; andererseits wird der Fachkräftemangel die Herausforderung verstärken, zuziehende Menschen mit Migrationshintergrund, die traditionell in geringerem Maße zivilgesellschaftlich engagiert sind, für ein Engagement zu begeistern.

Mit Blick auf die demografische Entwicklung von Sozialräumen ist mit einer zunehmenden Diskrepanz zwischen jungen, urbanen Zentren und alternden ländlichen Räumen zu rechnen. Angesichts dieser Entwicklung wird auch das Sterben klassischer Vereine in ländlichen Räumen zunehmen. Gleichwohl zeigte sich allerdings bereits in den vergangenen zehn Jahren eine Zunahme in der Engagementbereitschaft älterer Menschen.

Unter der Voraussetzung, dass sich dieser Trend fortsetzt, wird eine aktive Zivilgesellschaft vor Ort auch davon abhängen, inwieweit zivilgesellschaftliche Organisationen ihre Strukturen und Engagementangebote an die Erwartungen und Kapazitäten älterer Menschen anpassen. Abzuwarten bleibt indes, inwiefern die aktuell beobachtbare Landlust ein nachhaltiger Trend ist und somit auch jüngere Menschen wieder verstärkt in ländliche Räume ziehen und lokale Zivilgesellschaften mit neuen Organisations- und Engagementformen beleben.

Kapazitäten entwickeln, den digitalen Wandel künftig selbst im Sinne des Gemeinwohls zu gestalten und hierbei neue technische Möglichkeiten, wie künstliche Intelligenz, erfolgreich zum Einsatz bringen.

Besonderes Augenmerk verdient auch der Wandel von gesellschaftliche Konfliktlinien und die mögliche Folge einer stärker politisierten Zivilgesellschaft. Hier zeigt sich die Gefahr, dass die Zivilgesellschaft bereits heute beobachtbare soziokulturelle und -ökonomische Spaltungstendenzen in der Bevölkerung nicht primär moderiert und integrierend wirkt, sondern selbst von einer zunehmenden ideologischen Sortierung und Versäulung geprägt ist.

Bedenklich ist dies gerade vor dem Hintergrund, dass politische Partizipationsformen jenseits von Parteiengagement stark an Bedeutung zunehmen und somit die Zivilgesellschaft als Sphäre der Aushandlung und des Diskurses an Bedeutung gewinnt.

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